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Lieber Yevgeniy

Robert Stripling


Edenkoben, 12.01.23

 

 

 

Lieber Yevgeniy,

 

nun gut, die Briefanrede ist auch ein bisschen witzig – wann haben wir uns zuletzt so angeredet? Ging es einem von uns nicht gut?

Nachdem ich das Material zu den ›Schreibweisen der Lyrikkritik‹ erhalten und noch viel zu grob gesichtet habe, fürchte ich, es ist wieder eines dieser Themen, zu denen ich zweiundvierzig Seiten schreiben könnte, um festzustellen, dass ich dazu nichts beitragen kann. Dennoch fange ich nun mal mittendrin an.

 

Das Wort ›Lyrikkritik‹ erstaunt mich – dass es das gibt; dass es so ein Wort in die Welt geschafft hat! Es gibt also auch eine Prosakritik? Was soll das sein? Dort, auf der Seite der Kritik ebenso? Die Genreteilung?

Ich habe relativ wenig Erfahrung mit Literaturkritik. Sie erscheint mir als Business an sich auch extrem skurril, als so ein total abstrus verformtes Plastikbehältnis am Stand, von der Sonne zerschmolzen. Ich stelle mir vor, dass sie mich im besten Fall klüger machen soll. Was erwartest du davon? Ich bin gar nicht sicher, ob ich nachvollziehen kann, warum jemand die Entscheidung trifft, in die Kritik zu gehen. Neulich, nach der Veranstaltung in Frankfurt, sagte Paul Jandl (ich paraphrasiere): »Kritiker sind Lesende, die sich wünschen, in ihrer Lektüre von Autoren verstanden zu werden.«

Das leuchtete mir ein! Es ist also auch ein Wahnsinn damit verbunden. Ich habe für jeden Menschen große Wertschätzung übrig, der entschied, das Schreiben aufzugeben. Das hieße, jemand hat was verstanden.

 

Ich bin ja nur in der sogenannten ›Lyrik‹ gelandet, vermute ich, weil meine Prosatexte in der Prosa nicht verstanden wurden. Um es mal ›verstehen‹ zu nennen. Was nicht heißt, sie werden aus Sicht der Lyrik besser verstanden, ich glaube nicht. Das Missverständnis ist dort ein anderes; aber die Texte sind in der Lyrik anders kontextualisiert, was wohl Räume schafft, ich fürchte, Hohlräume.

Ich wollte eigentlich gar nicht über die Genreteilung reden, aber es hängt wohl damit zusammen, schon mit dem Wort ›Lyrikkritik‹. Mein Medium ist die Dauer. Manchmal heißt es dann irgendwo, ich changiere zwischen den Genres, was m.E. falsch ist – ich intendiere das nicht, die Genregrenzen sind in der Welt und machen, dass meine Texte als ›dazwischen‹ wahrgenommen werden. Was absurd ist, da sie doch eindeutig Prosa sind. Oder? Was wiederum ein Gespräch für sich wäre, der Zustand des Erzählens, heuer, und wie das mit der Prosakritik zusammenhängt.

 

Ein Schlenker sei erlaubt: Mich irritiert seit Jahren die Begrifflichkeit, mit der so selbstverständlich operiert werden muss, egal mit welchen Wörtern man da beschreibt – ›experimentell‹ (historisch ja mal ein brauchbarer Begriff), ›radikal‹, ›ein Wagnis‹ – und damit bestimmte Art von Text immer schon als Abweichung begriffen, als abnorm. Diese damit eingekastelten Weisen des Schreibens kommen doch häufig genug komplett aggresionsfrei aus einer spezifischen inneren Notwendigkeit (vertippte mich grade zu: Bot-wendigkeit, ja, die KI …). Diese innere Notwendigkeit zu sehen, zu begreifen, zu beschreiben, wie und was aus welchen Gründen etwas so und so gemacht ist, bedeutet nicht Text via Label zu den Stiefmütterchen ins Vitrinchen zu sortieren. Für mich kann ich sagen, dass ich nie daran interessiert war, ›avanciert‹ zu schreiben, aber dann kommen von außen diese Label, häufig ohne wirkliche Auseinandersetzung mit dem Geschriebenen – so als wolle man sich das vom Leib halten, im schlimmsten Fall ist es ›lyrisch‹, was so viel bedeutet wie ›unverständlich‹ und ›sagt also nix aus‹. Und dann sind die Begriffe in der Welt und werden wiederverwendet. Ich für mich, versuche möglichst genau das zu tun, was aus meinem Sein hervorgeht. Aber bin dann schon unter Verdacht. Der Experimentierende ist eitel, will den andern etwas vorhalten, gar etwas Böses. Dabei könnte es alles völlig normal sein, einfach mal angstfrei lesen. Die Verwendung von Begriffen illustriert dann womöglich ganz gut, wie streng konservativ die Vorstellungen von Schreiben sind – wenn bestimmte Schreibweisen eben als ›Abweichung‹ davon aufgefasst werden.

 

Worauf will ich hinaus? Ich kann mich nicht an den einen Tisch setzen und dann an den anderen und nun vergessen haben, was ich am ersten Tisch gemacht. Ich glaube nicht, dass das ›schlechtes Handwerk‹ ist. Selbstverständlich interessiere ich mich beim Schreiben eines Prosatextes genauso für Phonetik, wie bei einem Gedicht. Ich gehe da erstmal mit den selben Maßstäben rein. Also auch den selben Werkzeugen. (Da stecken die Zeugen drin, sie sehen dabei zu, was geschieht. Werkzeugung, ein schönes Wort …)

Genauso, wie mich ein Satz im Gedicht langweilen kann, hat er nicht die nötige Unwucht – Zeilenumbruch hin oder her, kann mich ein Reim in der Prosa begeistern! Es macht keinen Unterschied, was für einen Text ich schreibe. Es bestimmt der Text allein, wie ich demjenigen, was ich tue, zu folgen habe. Was dann natürlich einen Unterschied machen kann. Aber das ist keine Genrefrage. Der Text verlangt von mir eine spezifische Form durch Atem, Körperlichkeit, Umgang mit Material.

 

Ich verstehe nicht, wie es eine ›Lyrikkritik‹ geben kann, die ja dann, wäre sie das, was das Wort besagt, schon vorab wüsste, was ›Lyrik‹ ist und was nicht. Himmel hilf, die Welt wäre dann schon aufgeteilt und damit gar nicht mehr offen, zu schauen, was ist. Wenn das Urteil schon gefällt ist, wie kann es dann noch folgen? Oder muss ›Lyrikkritik‹ genau dies heißen: sich selbst zu befragen? Was bin ich? Vielleicht ist es aber am End wiedermal mein Problem: Ich misstraue allen Ordnungen, sie lenken die Wahrnehmung. Das kann gut sein und schlecht, dem dritten Standpunkt ist es egal. Doch einen ADS-Test machen? Die Ablenkung ist der Kern, ich will nicht einlenken?

 

Womit ich noch einen anderen Gedanken anreißen will, der mir eigentlich als erstes kam, zu diesem seltsamen Themenkomplex (ich sagte ja, ich habe nichts beizutragen …). Bei den ›Schreibweisen‹ dachte ich zunächst, dass Kritiken meist recht zeitnah erscheinen. Druckfahnen werden vorab gelesen; ein Buch, das einige Jahre alt ist, hat für die Kritik keine Relevanz mehr, oder sehe ich das falsch? Bei manchen Rezensionen, online zum Beispiel, da kommt es nicht so darauf an, wann sie erscheinen, das ist eine Lustfrage; dennoch, das ist doch alles mehr oder weniger aktuell, nicht?

Dies gehört m.E. auch zur ›Weise‹, zum ›Modus‹ der Kritik, dass sie aktuell sein will oder muss. Eine ziemliche Unverschämtheit, wenn man bedenkt, wie viele Jahre häufig an Büchern gearbeitet wurde. Und dann sind sie derart schnell erfasst, ein paar Monate später hat jemand dazu was mitzuteilen? Ich empfinde das als grausam. Und verstehe dann auch nicht mehr, worum es eigentlich geht. Hauptsache wegbesprochen? Worum gehts? Man kennt sich eh untereinander. Bedeungsmeierei und Feuilleton, ein besprochenes Buch erscheint halt besser, wichtiger – weiß der Teufel – als ein nichtbesprochenes. Das stimmt natürlich nicht, aber wie mit allem, suggeriert es sich so: Was ist, ist nun mal wichtiger oder richtiger als das, was nicht ist. Denn was nicht ist, ist ja nicht. Was dann wiederum mit Platz zu tun hat und der Redakteur ist froh, wenn er überhaupt noch was in der Richtung ›Kultur‹ unterkriegt.

 

Natürlich sind wir als Schreibende Zeitgenossen, so oder so, irgendwie in unserer Zeit verhaftet; gleichsam versuche ich für mich stets davon zu abstrahieren, einen Schritt zurück zu treten und jenseits meiner Zeit zu denken, was ich da tue. Was wäre, ein Buch zeigte erst einige Jahre später worum es ihm ging? Müsste die Kritik nicht genauso viel Zeit bekommen, Zeit investieren, wie das Buch, bis es zum Buch wurde? Das geht natürlich nicht, die Dinge sind schnelllebiger und die Kritikmenschen zugedröhnt mit Arbeit. Dankbarkeit, dass überhaupt was ›besprochen‹ wurde. Eine Buchmesse später ist sowieso die Hälfte vergessen. Dieser zeitliche Aspekt, die Not der Aktualität, aus der Rezensionen entstehen; Befragung der Halbwertszeit eines Buchs; fehlende Relektüre dessen, was vor einigen Jahren erschien; das sind Themen, die mich interessieren würden, ich weiß, nur kurz angerissen hier. Hat die Seite der Kritik nicht viel zu häufig gar nicht die Zeit sowie Freiheit, ein Buch nach Jahren mal zu besprechen (eben, weil man sich jahrelang im Nach-denken darüber Zeit ließ, bis man zu einem Urteil, einer Beschreibung kam …)? Ich weiß, es gibt solche ›Formate‹, aber selten; im Übrigen auch bei den sogenannten ›Veranstaltungsformaten‹.

Würde ich eine erste Antwort geben müssen, was ein wesentlicher Charakterzug von ›Schreibweisen der Lyrikkritik‹ ist, so würde ich spaßeshalber mal sagen: Schnelllebigkeit. Ein Geschäft also, das meinem (unserem?) tatsächlich gegenüber steht? Was nicht heißen soll, ich wäre langsam. Aber hier unten verläuft die Zeit so anders.

 

Herzlich

Robert

 

 

P.S.: Damals (›damals‹, haha!) versandete der Dialog und wir entschieden, nichts einzusenden zu diesem Projekt – ›Schreibweisen der Lyrikkritik‹. Womit dieser Brief also auf deiner Webseite stehen kann, ist ja ganz witzig, wo die Dinge sich in der Welt dann durchsetzen und das Meiste geht dennoch verloren, bzw. umgekehrt: Das Wenige setzt sich durch, ist für die Welt bestimmt – mein vielleicht erstes und ältestes Rätsel: das Verpassen. So auch Liebe. Ich bin nicht sicher, ob man im Schreiben die Freiheit hat, es anders werden zu lassen. Just bei Gottfried Benn, Vorsicht, zweifelhafter Farbauftrag: »Nur bei Mittelmäßigkeiten greift das Schicksal ein, was darüber ist, führt seine Existenz alleine.« // Zur Briefform wollte ich noch loswerden, dass sie natürlich Quatsch ist, in Zeiten von WhatsApp, hin und her geschleuderten Instagram-Videos und eh Mails. Als würde ich dir tatsächlich einen Brief schreiben – so ein Camembert! Jürg Laederach hat das mal sehr treffend in dem Mailroman »Depeschen nach Mailland« formuliert: »… zudem hätte man Briefe nie so geschrieben, weil die Mühsal der Postzustellung zum Adressaten eine größere Distanz legt, als das Tastendrücken-schwupp-es-ist-befördert. Die Geschwindigkeit der geplanten Beförderung wirkt als Energie auf den Text ein.« Bis bald in Wien!

 

R., 15.07.24







Foto: Julie Kerdellant


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